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raufhin: „Du kannst ja sprechen. Weshalb hast du denn bisher nichts wir lernen, Bilder als komplexe soziale, kulturelle und mediale Kon-
gesagt?“ – „Bisher hat mir das Essen immer geschmeckt.“ Diese struktionen zu lesen und zu interpretieren. In diesem Vortrag setzen
kleine Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass erst ein „Nein“ sprach- wir uns genau damit auseinander; wie wir unsere visuellen Kompe-
liche Kommunikation erfordert, während Zustimmung stillschweigend tenzen weiter ausbauen können und dem Bild kritisch – aber niemals
gegeben werden kann. Mehr noch: Dadurch, dass Widerspruch in ängstlich oder misstrauisch – begegnen können. Diese Kompetenz,
irgendeiner Form kommuniziert wird (oder werden muss), wird eine die Sprache der Bilder lesen und verstehen zu können, ist ohne Zwei-
Positionsdifferenz erkennbar und begründet möglicherweise einen fel von größter Bedeutung in der aktuellen, hoch technologisierten
Konflikt. Menschliche Kommunikation kann zu Verständigungspro- Bildergesellschaft.
blemen führen und ist dadurch geeignet, Konflikte bis zum Äußersten
eskalieren zu lassen. Dies meint der Schweizer Journalist Andreas Professor Jeroen Coppens
Iten mit dem Satz, dass Krieg die Fortsetzung der Kommunikation 30.06. 1-mal Do. 19:00-21:15 3 UE 1011008 12,00 €
mit anderen Mitteln sei. Gleichermaßen eignet sie sich dazu, Missver-
ständnisse auszuräumen. In mündlicher wie in schriftlicher Form las- Gelnhausen, Bildungshaus Main-Kinzig, Frankfurter Str. 30
sen sich so auch Konflikte regeln. Allerdings sind selbst schriftliche
Vereinbarungen auslegungsfähig und können Konflikte neu entfachen.
Vom Kommunikationsforscher Paul Watzlawick stammt das Axiom,
man könne nicht nicht kommunizieren. Wir müssen uns daher stets Kehlkopf, Keilschrift, Hieroglyphen –
der Tatsache bewusst sein, dass das Schweigen genau wie das Spre- Von der Entstehung der Kommunikation
chen eine Äußerung ist, die positive oder negative Folgen haben kann,
aber nie völlig folgenlos ist. Das ist wichtig, um zu erkennen, wie sich Bei einem etwa 60.000 Jahre alten Skelett eines Neandertalers, das
Konflikte entwickelt haben. Und es ist auch wichtig, um als Konflikt- bei Haifa in Israel gefunden wurde, lässt das Zungenbein den Schluss
partei oder als hilfsbereiter Dritter darauf Einfluss zu nehmen, dass zu, dass diese Spezies bereits zur Lautsprache fähig war. Bis zur
eine Auseinandersetzung nicht weiter eskaliert, oder dass es zu einer Abbildung von Sprache in Schrift war es ein langer Weg. Die älteste
(möglichst einvernehmlichen) Regelung kommt. bekannte Bilderschrift entstand vor rund 5000 Jahren in Uruk. Diese
entwickelte sich durch Abstrahierung hin zur Keilschrift. Schriftträger
und Schreibwerkzeug trugen zur Ausformung der Charakteristika der
Prof. Dr. Berthold Meyer Schriftform bei: So verdankte die Keilschrift ihre spezielle Gestalt der
09.06. 1-mal Do. 19:00-21:15 3 UE 1011006 12,00 € Tatsache, dass sie mit einem Griffel in den weichen Ton eingedrückt
Gelnhausen, Bildungshaus Main-Kinzig, Frankfurter Str. 30 und -geritzt wurde, der anschließend erst aushärtete. Die Keilschrift
wurde über lange Zeit in den Reichen von Sumer, Assur und Babylon
verwendet. Parallel dazu entstand in Ägypten um 3200 die Hierogly-
phenschrift. Beide Schriftsysteme hatten sich aus einer anfänglichen
Schriftquellen der römischen Republik und Kaiserzeit Bilderschrift zu einer Silbenschrift entwickelt.
Keine Epoche der Menschheit hat derart viele schriftliche Zeugnisse In das faszinierende Feld der Entstehung von Sprache und Schrift –
hinterlassen wie die Römerzeit. Inschriften überliefern uns den Alltag, und damit in die Grundlagen unserer Kommunikation – führt der
Gesetze, militärische und zivile Anordnungen, die Wirtschaft und Vortrag, der, mit Fokus auf dem Alten Orient, Phänomene der Spra-
vieles mehr. Die Teilnehmer erhalten zunächst einen Überblick über chentwicklung und der Ausarbeitung von Zeichen- und Schriftcodes
die unterschiedlichen Inschriftengattungen – einen wesentlichen Teil betrachtet.
nehmen dann die mündlich gehaltenen und durch schriftliche Auf-
zeichnung erhaltenen Reden der römischen Antike ein. Christine Raedler
07.07. 1-mal Do. 19:00-21:15 3 UE 1011009 12,00 €
Mario Becker
Gelnhausen, Bildungshaus Main-Kinzig, Frankfurter Str. 30
23.06. 1-mal Do. 19:00-21:15 3 UE 1011007 12,00 €
Gelnhausen, Bildungshaus Main-Kinzig, Frankfurter Str. 30
Visuelle Literalität: Die Sprache der Bilder lesen
In den letzten 20 Jahren hat sich nicht nur eine große Wende in der © gemeinfrei – wikimedia.org
Technologie-Entwicklung, sondern auch in der Bedeutsamkeit und
Wichtigkeit des Bildes vollzogen. Heutzutage konsumieren wir tagtäg-
lich unzählige Bilder, sei es in den Nachrichten, im Internet oder in
der Werbung. Außerdem produzieren wir so viele Bilder wie nie zuvor,
meistens mit den hochauflösenden Kameras unserer Smartphones,
und verbreiten sie dann über unsere Social-Media-Accounts und über
Nachrichtendienste wie WhatsApp. Kurzgefasst: Jeder Mensch ist
Bildkonsument, Bildproduzent und Bildverbreiter geworden. Dabei ist
es gar nicht so lange her, dass ausschließlich Künstler – und später
auch Fotografen – die technischen Fertigkeiten hatten, Bilder zu
machen.
Trotz dieser revolutionären visuellen Wende sind aber unsere Fähig-
keiten, zu verstehen, wie Bilder funktionieren, nicht im gleichen Maße
mitgewachsen. Auch wenn die Menschheit seit Menschengedenken
schon mit Bildern kommuniziert (sei es mit Höhlenmalereien, mit
Spezial Bildern auf altgriechischen Vasen (Amphoren), mit beeindruckenden Spezial
Renaissancemalereien oder mit abstrakter Gegenwartskunst) und
auch wenn wir heutzutage so vielen Bildern begegnen wie nie zuvor,
bleiben Bilder komplexe, oft vielschichtige Wesen, die nicht leicht les-
bar sind. Manchmal sind Bilder verführerisch, manchmal trügerisch
und manchmal sogar betrügerisch.
Aus dem Grund ist es laut Kunsthistoriker und -kritiker James Elkins
(2007) notwendig, unsere visuelle Literalität weiter auszubauen, indem